...wurde Thilo Sarrazin aus dem selbsternannten Toleranzbezirk Kreuzberg. Die Fakten sind bekannt, und zu diesem Thema floss auch schon reichlich virtuelle Tinte. Z. B. hier.
Natürlich ist man einerseits etwas erstaunt (um es milde auszudrücken) über die Art und Weise, wie man dort mit missliebigen Meinungen umgeht. Aber andererseits auch wieder nicht. Man kennt schließlich seine Pappenheimer. Und vieles, allzu vieles, was sich hinter dem Begriff Toleranz verbirgt, trägt durchaus abstoßende Züge. Aber was soll´s. Der Terminus Toleranz ist längst zu einem politischen Kampfbegriff geworden, zu einer Schablone, deren Inhalt kaum noch einer kennt oder zu kennen wünscht. Toleranz wird von jenen eingefordert, die ihre Intoleranz offen ausleben. Ganz ähnlich verhält es sich im Übrigen mit dem Begriff Respekt.
Doch es gibt einen Aspekt in dieser Geschichte, der bisher noch wenig bis gar nicht beleuchtet wurde. Es geht um das, was man gemeinhin als Gruppendynamik bezeichnet. Wer sich einer bestimmten Gemeinschaft zugehörig fühlt, unterwirft sich bewusst oder unbewusst gewissen Verhaltensregeln. Diese Regeln müssen nicht einmal klar formuliert sein. Es reicht, dass jeder ein intuitives Verständnis dafür hat, was man zu tun und was zu unterlassen hat. Beispiele dafür finden sich in jeder Diktatur. Auch jene Bürger, die keine ausgebildeten Juristen sind, haben ein sehr feines Gespür dafür, wo die Grenze zwischen gut und böse verläuft. Und beinahe jeder kennt Beispiele von Leuten, die jene Grenze überschritten haben und sich damit gewaltige Probleme aufgeladen haben. Und selbst wenn man keinen direkten Kontakt mit solchen Fällen hat, so hat man doch wenigstens von diesen Bedauernswerten gehört. So verhielt es sich etwa im sozialistischen Paradies der DDR. Wie sagte der Stasi-Offizier zu seinen Kandidaten auf dem Verhörstuhl, wenn er ihnen wieder einmal eine unangenehme Alternative vor Augen führte: Wollen Sie das? - Eine rhetorische Frage, die nur eine Antwort zulässt.
Doch zurück nach Kreuzberg. Und zwar ins Restaurant "Hasir" in der Oranienburger Straße. Dort wurde Sarrazin der Service verweigert. Und zwar nicht, weil er ein stadtbekannter Zechpreller wäre, sondern weil er ein Buch geschrieben hat. Nicht irgend ein Buch, sondern eines, das in gewissen Kreisen das leidlich bekannte Beleidigungsgen aktiviert hat. Üblicherweise halten sich Wirtschaftstreibende (wozu auch Restaurantbesitzer gehören) mit politischen Aussagen zurück. Es ist ihnen egal, ob der Gast rot, schwarz, grün oder sonst eine Farbe wählt, solange er nur seine Zeche bezahlt (und, hoffentlich, wiederkommt).
Nun mag es ja sein, dass der Restaurantbesitzer besagtes Buch gelesen und daraufhin den ehemaligen Berliner Finanzsenator auf seine Hassliste gesetzt hat. Es ist aber auch eine andere Interpretation möglich, nämlich die, dass Gastwirt schlicht und einfach Angst davor hatte, in seiner Community schief angesehen zu werden. Stellen Sie sich vor, sie betreiben ein Lokal, das im ganzen Bezirk für seine Familienfreundlichkeit bekannt ist, und plötzlich taucht Al Capone auf und will bei Ihnen dinieren. Was ist Ihnen wichtiger: Ihr Ruf oder der Gangsterboss als Gast? - Na eben!
Langjährige Stammkunden könnten ausbleiben. Und, schlimmer noch, das Restaurant könnte ins Fadenkreuz radikaler Kräfte gelangen mit entsprechenden, unkalkulierbaren wirtschaftlichen Konsequenzen. Ein abgelehnter Sarrazin ist leichter zu verkraften als zehn verprellte Dauergäste und die unabweisbare Rufschädigung in der Szene. Insofern ist die Vorgehensweise des Restaurantbetreibers durchaus rational nachzuvollziehen.
Wirklich beunruhigend ist an der Sache vor allem eines: nämlich, dass hier ein offensichtlicher Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Die Parole "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns" schwebt unverkennbar im Raum. Die Reihen der türkischen Community sind bereits so fest geschlossen, dass auch jene, die nicht zu den Hardlinern gehören, sich der Gruppendynamik nicht mehr entziehen können. Insofern ist die Sarrazin-Geschichte aus Kreuzberg ein deutlicher Gradmesser der gesellschaftlichen Verhältnisse. Dieser Befund ist weitaus schlagender als all die berechtigte Empörung darüber, wie man mit einem Menschen umgeht, der allgegenwärtige und doch ständig unter den Tisch gekehrte Probleme offen anspricht, und zwar mit einer Sachlichkeit, die man bei seinen politkorrekten Gegenspielern kaum finden wird.
Die Spaltung der Gesellschaft ist bereits da, nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Ereignisse wie jene in Kreuzberg sind nichts anderes als Lackmustests, die genau das aufzeigen, was von den herrschenden Eliten heftig in Abrede gestellt wird. All das Totschweigen und Schönreden, das Beschwichtigen und Kopf-in-den-Sand-Stecken wird nur dazu führen, diese Verhältnisse zu verfestigen.
Was kommt dann? Gewisse Länder, die auf diesem Weg schon weiter fortgeschritten sind, liefern reichlich Anschauungsmaterial für das Szenario der Zukunft. In England haben sich unter dem Banner der Toleranz einige No-Go-Zonen etabliert, also Gebiete, in denen die offene Intoleranz herrscht. Intoleranz gegenüber allen jenen, die nicht dazu gehören. Es handelt sich dabei quasi um volksbefreite Zonen mit umgekehrten Vorzeichen. Unnötig zu sagen, wer dieser Entwicklung Vorschub leistet. Auch andere Länder folgen unverdrossen diesem Weg.
In einer Pervertierung von Ursache und Wirkung wird von den PC-Eliten so getan, als seien Leute wie Sarrazin schuld an diesen Entwicklungen. Das ist ungefähr so, als würde man den Arzt dafür verantwortlich machen, dass er eine schwere Krankheit diagnostiziert hat. Wäre es da nicht besser, der Arzt behielte seine Diagnose für sich und überließe den Patienten dem unvermeidlichen Siechtum? Vielleicht meinen diese Leute ja auch, die schleichende Krankheit könnte mit homöopathischen Dosen behandelt werden. Nun ja, in der Allgemeinmedizin gibt es für die Wirksamkeit der Homöopathie keinen überzeugenden Beweis. Ob das bei gesellschaftlichen Problemen anders ist, ist zu bezweifeln.
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