2016/03/22

Anmerkungen zu Brüssel

Ich habe bis vor nicht allzu langer Zeit in Brüssel gelebt. Mehr als ein Jahrzehnt lang. Es gibt nur wenige Leute, die mir etwas über diese Stadt erzählen könnten, was ich nicht schon selbst wüsste.
Ich habe mehr als einmal die U-Bahnstation Maalbeek benutzt, und auch den Flughafen Brüssel kenne ich wie meine sprichwörtliche Westentasche. Die Orte auf den Bildern, die heute im Netz gezeigt wurden, sind mir sehr gut vertraut.

Ich weiß nicht, ob sich unter den Opfern Leute befinden, die ich kenne. Möglich wäre es, obwohl die Wahrscheinlichkeit bei einer Großstadt von etwa einer Million Einwohnern gering ist.

Nirgendwo sonst habe ich so viele Leute kennengelernt, die Opfer von Verbrechen (Diebstahl, Raubüberfall, Einbruch, Vergewaltigung) geworden sind wie in Brüssel. Ich sage das sine ira et studio, also ohne mich ereifern zu wollen. Es ist einfach ein Fakt. Mehr nicht.

Nach den tragischen Ereignissen von heute morgen treten überall die selbsternannten Erklärer und Phrasendrescher auf, die uns zwar nichts erklären, aber dafür umso mehr einschwören wollen auf ihre Weltsicht. Das ist nicht das Ziel dieses Postings. Ich will niemanden einschwören, auf welche Art der Wahrheit auch immer. Warum sollte ich auch? Ich will nur berichten von meinen eigenen Erfahrungen und denen von Leuten, die ich kenne.

Da war die ehemalige Kollegin, die eines Tages feststellt, dass ihr (katholischer) Sohn plötzlich kein Schweinefleich mehr isst und den Ramadan streng befolgt.

Da waren die Meldungen im belgischen Radio (ist schon ein paar Jahre her, irgendwann wollte ich mir diese Dinge einfach nicht mehr anhören), dass Eltern sich schon während der Nacht um Schulplätze für ihre Kinder anstellen, um nur ja in einer "guten" Schule zu landen. Vieles im Leben dieser Stadt (und nicht nur dort) ist verklausuliert. Man redet über bestimmte Dinge in einer ganz bestimmten Weise, ohne Ross und Reiter zu nennen. Aber sofern man nicht ganz verblödet oder ideologisch borniert ist, weiß man schon bald, warum gewisse Dinge der Fall sind. Man würde niemals sagen: ich will nicht, dass meine Kinder in Schule X gehen, weil dort Y ist. So etwas offen zu sagen, kann einen Kopf und Kragen kosten. Also unterlässt man es und drückt sich in einer anderen Weise aus. Aber wie gesagt, irgendwann weiß man, was gemeint ist.

Da waren die Meldungen (wieder im belgischen Radio), dass diese oder jene Buslinie heute wieder bestreikt wird, weil in der Nacht zuvor ein Busfahrer attackiert wurde. Das kam sehr häufig.

Auch das Zugpersonal war öfter Aggressionen ausgesetzt. Ich meine mich zu erinnern, dass es beinahe täglich zu Zwischenfällen kam. Ob das heute auch noch so ist, weiß ich nicht.

Einmal, auch schon ein paar Jahr her, wurde ich Zeuge eines Bettelseminars. Da stieg ein junger Mann (vielleicht Sozialarbeiter?) zusammen mit ein paar Leuten in die U-Bahn, und dann wurde Betteln simuliert und zwar mit Hilfe einer Videokamera. Die einzelnen Bettelversuche der "Kandidaten" wurden gefilmt und gleich darauf mit diesen besprochen. Schließlich ist ja auch die Technik des Betteln entwicklungsfähig. Da gab es praktische Tips, wie man es "besser" anstellt.

Ein andermal wurde ich beinahe Zeuge eines Einbruchs bei einem Nachbarn. Ohne auf Details einzugehen, als mich die Polizei nach der Beschreibung der Täter fragte, erklärte man mir, dass Tätergruppen mit unterschiedlichem "Hintergrund" auch unterschiedliche Aktivitätsprofile hatten. Die einen suchen eher nach Schmuck, die anderen nach Bargeld, wieder andere nach Computern oder Kreditkarten. Eine nicht nur kriminalistische, sondern auch ethnische Spezialisierung. Echt spannend, was man bei einem Polizeiinterview so alles lernt.

Bei einem Sicherheitsseminar (ja auch sowas gibt es in Brüssel) hörte ich etwas über die Vorgehensweise von Kriminellen mit einem ganz spezifischen Hintergrund, der hier nicht genannt werden soll. Und die geht so: Vorne sind die zwei Jungen (in der Regel Teenager, manchmal auch jünger), die ihre Fähigkeiten der Ablenkung und des Diebstahls perfektionieren wollen (oder müssen?). Ein paar Schritte dahinter ist der Leitwolf, der ein Auge auf seine Schäfchen hat und wenn nötig eingreift. Die Jungen müssen erst noch ihre Sporen verdienen, und irgendwann wollen sie ja selbst Leitwolf werden und die Karriereleiter hochklettern. So wird der Grundstein für eine kleinkriminelle Laufbahn gelegt, die mitunter in höhere Sphären führt. Diese Art der Täter schreckt auch nicht vor handgeiflicher Gewalt zurück, insbesondere bei numerischer Überlegenheit.

Vor etlichen Gebäuden der Stadt sind seit Monaten Soldaten postiert. Auch am Brüsseler Flughafen. Bei einer meiner letzten Ankünfte in Zaventem zählte ich nicht weniger als vier gepanzerte Fahrzeuge. Wie wirkungsvoll (oder eher: wirkungslos) diese Maßnahme ist, hat sich heute eindrucksvoll erwiesen. Es ist im Grunde nur ein Placebo, das die Aktivität der Verantwortlichen suggerieren soll. Mehr nicht.

Schon bald wird man mit den Fingern auf die Sicherheitsdienste zeigen und ihnen Versagen vorwerfen. Man wird auf die komplizierte Struktur der Brüsseler Polizei verweisen und sagen, dass es hier und dort Versäumnisse gegeben hat, die in letzter Konsequenz zu den aktuellen Terrortaten beigetragen haben. Und man wird sich für sehr klug dabei halten.

Nebbich. Warum? Nun, dazu ein paar einfache Überlegungen: Allein die Tatsache, dass sich der Hauptverdächtige der Pariser Anschläge monatelang vor der Polizei verstecken konnte, weist darauf hin, dass es eine große Unterstützerszene gibt. Natürlich sind nicht alle Unterstützer potenzielle Terroristen. Soweit, so trivial. Aber dennoch sind Unterstützer vital für Leute, die zur Tat schreiten wollen. Und auch von letzteren gibt es viele. Ich schätze mal einige Tausend allein in Belgien.
Wenn es nun einer gefühlten Hundertschaft von Polizeikräften bedarf, um EINEN Verdächtigen zu fassen, wieviele Leute braucht man dann, um - sagen wir - gegen 500 bewaffnete Kämpfer vorzugehen? Eine Infanteridivision, das gesamte belgische Militär?

Außerdem: Wie will man Tausende potenzielle Terroristen observieren? Ein Ding der Unmöglichkeit, und ich rede noch gar nicht mal von den Schwierigkeiten, dieses besondere Milieu zu infiltrieren.

Abschließend noch die Frage: War ich überrascht über die heutigen Ereignisse in Brüssel? Nein.