2011/06/14

Ratio versus Emotio

Vernunft gegen Gefühl. So in etwa kann man den gegenwärtigen Zustand des Westens beschreiben. Obwohl es vernünftige Gründe gibt, etwas Bestimmtes zu tun, wird aus einer Woge von Emotionalitäten heraus genau das Gegenteil davon getan. Hinterher wird das Ganze dann mit pseudorationalen Argumenten aufgefettet, um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen.

Der Schlüssel zu dieser neuen Emotionalität steckt in der Angst, die derzeit (und wohl schon seit einigen Jahren) einen wahren Kult erlebt. Die Mutter aller Ängste ist, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, die Atom-Angst. Und gleich dahinter kommt die Gen-Angst. Oder ist es vielleicht umgekehrt?

War es noch vor wenigen Jahrzehnten beinahe ein Tabu, von seinen eigenen Ängsten zu sprechen, so hat sich die Stimmungslage seither deutlich verändert. Inzwischen kann man mühelos zum Helden mutieren, wenn man laut und deutlich sagt: Ich habe Angst. Im Zeitalter des Genderismus gilt das selbstverständlich auch für Männer. Sie brauchen ihre Ängst nicht mehr zu verstecken, sondern werden ausdrücklich aufgefordert, sie "auszuleben".

Wer jedoch den "klassischen" Helden mimt, also jenen Tausendsassa, der allen Widrigkeiten zum Trotz seine Ängste überwindet und sich einer drohenden Gefahr entgegen stellt, der erntet bestenfalls mitleidige Blicke. Von Dank und Anerkennung keine Spur. Dies ist ein Geistesklima, das das Hervorbringen neuer (echter) Helden sichtbar erschwert. Wer setzt sich schon einem Risiko aus, nur um hinterher als Vollidiot dazustehen? Das wiederum hat sehr viel mit Rationalität zu tun.

Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch, sagte Goethe. Wie recht er hat, wird an der Problematik von Ratio vs. Emotio deutlich. Denn auch emotionsgetriebene Menschen verhalten sich oft durchaus rational. So können diese Leute beispielsweise lautstark für die Aufnahme von Asylanten eintreten. Wenn jedoch die Anzahl der Asylbewerber in ihrem eigenen Lebensumfeld steigt, packen sie gerne ihre Sache und ziehen in eine "sichere" Gegend. Wegen der Kinder.

Und natürlich haben umgekehrt Verstandesmenschen Emotionen. Niemand ist eine Maschine. Allerdings haben die Rationalisten einen anderen Zugang zu Problemen und ihren Lösungen. Sie sind sich im Allgemeinen der Stärken und Schwächen ihres Verfahrens bewusst. Wenn er eine bestimmte Entscheidung trifft, hat er zuvor alle Argumente abgewägt.

Der Gefühlsmensch hingegen meint ohne rationale Analyse auskommen zu können. Es genügt ihm, auf sein Gefühl zu hören und sich nach einer getroffenen Entscheidung "gut zu fühlen". Jetzt wird eben alles gut.

Natürlich ist damit noch keineswegs gesagt, wer im Einzelfall recht hat. Es mag ja sein, dass der Emotionalist (wie im Lotto) auf den richtigen Weg gesetzt hat. Ebenso wie es passieren kann, dass der Rationalist eine Niete gezogen hat. Aber im Allgemeinen wird der Rationalist weitaus häufiger richtig liegen, ganz einfach schon deswegen, weil ein bestehendes Problem einer sorgfältigen Analyse unterzogen hat und somit besser Bescheid weiß als der reine Gefühlsmensch, der sich das alles ersparen zu können meint.

Wenn beide, also Ratio und Emotio, mit ihrer Entscheidung richtig liegen, ist die Sache trivial. Spannend wird es hingegen, wenn beide falsch liegen. Denn dann geht es darum, die Ursachen für die Fehlentscheidung zu finden und zu benennen. Der Rationalist wird sich einmal mehr über die Fakten beugen und alles analysieren. Im Normalfall wird er dann herausfinden, dass die eine oder andere seiner Annahmen falsch war. Wenn man diese dann korrigiert, kommt man zwangsläufig zu einer neuen Lösung. Alles ganz rational.

Der Emotionalist hingegen ist bei einer Fehlentscheidung in einer ganz anderen Lage. Er hat ja keine Faktenbasis, die er nochmals unter die Lupe nehmen könnte. Seine einzige Faktenbasis ist sein Gefühl. Und er wird wohl schwerlich zugeben, dass ihn sein Gefühl getäuscht hat. Dennoch muss eine Erklärung für seine Fehlentscheidung her. Nachdem sein Verfahren quasi unfehlbar ist, muss eine äußere Ursache für den Fehler vorliegen. Also macht man sich auf die Suche nach einem Sündenbock. Jemand, der den eigenen Absichten entgegen arbeitet. Unheimliche Mächte, die über ungeahnte Kräfte verfügen und so das geplante Paradies zerstören. Hier liegt die Quelle für etliche Verschwörungstheorien.

Die Fehleranalyse eines Gefühlsmenschen wird also genauso unreflektiert sein wie seine ursprüngliche Problemlösung. Das Einzige, was er ins Treffen führen kann, ist die Stärke seiner Emotionen. Und die werden im Falle des Misslingens eher noch stärker.

Leider ist es in der jüngsten Vergangenheit den Emotionalisten gelungen, die Ratio in Verruf zu bringen. Wer sich auf rationale Argumente beruft, hat nicht nur einen schweren Stand, sondern kann froh sein, wenn ihm überhaupt zugehört wird. Rationalismus gilt als kalt und unmenschlich. Überhaupt das genaue Gegenteil dessen, was man beispielsweise als soziale Wärme bezeichnet. Was immer Letzteres auch sein mag. Es klingt irgendwie kuschelig, so als würde man an einem kalten Wintertag zu Hause vor dem warmen Kamin sitzen und eine heiße Tasse Tee schlürfen. Da ist es gemütlich, während draußen der kalte Wind tobt. Deswegen wecken Leerformeln wie soziale Wärme auch so positive Assoziationen.

Rationalität hingegen bedeutet Arbeit. Man muss sein Oberstübchen schon ein bisschen auf Trab bringen, um ein bestimmtes Problem zu lösen. Das kann schwierig sein und dauern. Und am Ende kann es häufig so sein, dass man keine ideale Lösung vorzuweisen hat, weil jede irgendwo Unzulänglichkeiten aufweist. So bleibt also ein Rest von Unsicherheit zurück. Dennoch kann man sich mit guten Gründen für genau eine bestimmte Lösung entscheiden. Und wenn sie sich nicht bewährt, kann man sie mit ebenso guten Gründen verwerfen und eine andere ausprobieren. Ja, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen.

Von derartigen Zweifeln ist der Emotionalist weit entfernt. Sein Bauch sagt ihm, wo´s langgeht. Wozu lange nachdenken und abwägen? Da wird man doch nur irre!

Was die Dauer der Entscheidungsfindung betrifft, ist der Emotionalist wahrscheinlich im Vorteil. Was die Qualität der getroffenen Entscheidungen betrifft, wird es allerdings genau andersherum sein. Es war kein Zufall, dass die entscheidenden Fortschritte der Menschheit sich im Anschluss an das Zeitalter der Aufklärung einstellten, als sich die Tragweite und Schlagkraft rationalen Denkens offenbarte. Gewiss gab es immer Gegenreaktionen zu bestehenden Trends, und der Rationalismus musste irgendwann auf seine Widersacher treffen (wie es ja auch in der Geschichte der Fall war). Dies scheint auch jetzt der Fall zu sein. In einer hoch komplexen Welt wie der unsrigen ist es allerdings riskant, auf die Stärken des rationalen Denkens zu völlig verzichten. Etwas mehr Vernunftgebrauch täte uns allen gut.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sagt Immanuel Kant. Vielleicht war sein Urteil etwas hart gegenüber seinen Zeitgenossen, insbesondere was das Adjektiv selbstverschuldet betraf. Schließlich war Unmündigkeit bis dahin im wesentlichen der Normalzustand. Wenn allerdings der Mensch des 21. Jahrhunderts so leichtfertig alle Rationalität hinter sich lässt, dann ist es in der Tat gerechtfertigt, von einem selbstverschuldeten Ereignis zu sprechen. Und es wird eines gehörigen Stückes Arbeit bedürfen, um sich eines Tages aus dieser nunmehr wirklich selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.

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