2015/10/10

Kulturen der Lüge (1)

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Bekannter folgende Geschichte: Während seiner gesamten Schulzeit habe er seine Mutter angeschwindelt. Immer wenn sie ihn beim Nachhause-Kommen fragte, ob er im Unterricht etwas "gekonnt" hätte, erfand er einfach etwas, um ihre Erwartungshaltung zu befriedigen. Deutsch, English oder Geographie hieß es dann, auch wenn er in Wahrheit den ganzen Tag nichts von sich gegeben hatte.

Das ging wohl über Jahre so. Ohne Probleme. Denn was immer er auch zum Besten gab, die Mutter konnte es ja sowieso nicht überprüfen. So kamen beide auf ihre Rechnung: Die Frau Mama konnte ihre Illusion eines engagierten Schülers pflegen, während er seine Ruhe hatte und sich keine bohrenden Fragen gefallen lassen musste.

So trivial diese Geschichte ist, so entbehrt sie doch nicht einer gewissen Tiefgründigkeit. Denn hier wurde die Wahrheit in kreativer Weise zurecht gebogen, um ein für beide Seiten befriedigendes Ergebnis zu erzielen. Wahrscheinlich lebte die Mutter ja in der Illusion, ein guter Schüler müsse sich gleichsam jeden Tag aktiv in den Unterricht einbringen. Das ist natürlich Unsinn, wie jeder (ehemalige) Schüler aus Erfahrung weiß.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Nun, sie fällt mir immer dann ein, wenn wieder mal ein "Skandal" durch den Mediendschungel rauscht. Und im Moment ist das der VW-Diesel-Skandal. Auch hier offenbart sich ein ähnliches Muster.

Auf der einen Seite die Politik mit ihrem Anspruch, die Menschen vor allen tatsächlichen und eingebildeten Gefahren zu schützen. Diese Politik erlässt Umweltgesetze, weil sie meint, damit dem Wählerwillen (was immer das auch sein soll) zu entsprechen. Und die Autobauer geben sich alle Mühe, den Erfordernissen gerecht zu werden, wobei man natürlich auch eine gewisse Kreativität walten lässt.

Es ist augenscheinlich, dass kleinere Autos weniger Benzin oder Diesel verbrauchen als größere. Wer mehr Masse bewegt, braucht auch entsprechend mehr Energie. So einfach ist Physik. Aber mit der Physik stehen Politiker nicht nur gelegentlich auf Kriegsfuß.

Nachdem deutsche Hersteller eher bei den größeren Typen zu verorten sind, haben ihre Autos tendenziell einen höheren Verbrauch als andere, nicht-deutsche Hersteller. Um die deutschen Produzenten vor dem Ansturm grünen Verbotsdenkens zu bewahren, wurden einfach neue "Konzepte" erfunden, um den Verkauf der beliebten SUVs und anderer Modelle nicht zu gefährden. Das Konzept des "Flottenverbrauchs" ist so ein Konzept. Darauf muss man erst mal kommen. Und schwups waren die deutschen Autobauer wieder im grünen Bereich. Und das obwohl sich faktisch nichts geändert hat.

Auch ich besaß bis vor zwei Jahren einen Golf TDI. Ich bin wirklich froh, dass ich das Ding letztes Jahr verkaufen konnte. Es war ein Klasseauto mit einem hervorragenden und sparsamen Motor. Durchschnittsverbrauch über alle Strecken etwa 5,5 Liter pro 100 km. Selbst gemessen.

Vor ein paar Jahren war ich einmal mit einem Mietauto in Österreich unterwegs, einem Nissan Juke. Das Ding hatte einen wesentlich schwächeren Motor als mein TDI, aber der Durchschnittsverbrauch war - höher. Auch selbst gemessen. Welches ist nun das bessere Auto? Mein ehemaliger TDI, der locker jeden Berg nahm oder der brustschwache Juke, den jede Steigung ins Schwitzen brachte und dabei noch mehr Sprit brauchte?

Aber zurück zum Thema. Die Motorentechnologie hat in den letzten Jahrzehnten in der Tat gewaltige Fortschritte gemacht. Verbrauchswerte sind spürbar zurückgegangen. Und Emissionen detto. Trotzdem muss die grüne Lobby nach wie vor ihr Horroszenario plakatieren. Es wird niemals so sein, dass sie sagt: Wir haben unser Ziel erreicht. Man braucht uns nicht mehr. 

Und die Industrie, nicht nur im Autobereich, sichtbar bemüht, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen, bläst jede Kleinigkeit zur weltrettenden Errungenschaft auf. Ich habe das in etlichen Meetings erlebt. Von da ist es nur mehr ein kleiner Schritt zur kreativen Software, die die Motorenleistung an die Erwartungshaltung der Weltretter anpasst.

Ja, VW hat gelogen. Aber die Frage ist: Hätte VW die Wahrheit überlebt? Man hat etliche Jahre in die Entwicklung eines neuen emissionsfreundlichen Motors investiert, nur um dann festzustellen, dass man die Ziele so nicht erreichen konnte. Hätte man noch ein paar Jahre weiterentwickeln sollen... Vielleicht. Gewiss ist der Erfindergeist der Ingenieure grenzenlos. Aber die Physik zieht ihre eigenen Grenzen.

Dennoch ist es unfair, jetzt nur auf VW einzuprügeln. Denn gerade bei grünen Themen wird oft gelogen, dass sich die Balken biegen: Man sollte sich stattdessen die Frage stellen, wie realistisch grüne Vorgaben überhaupt sein können. Oder glaubt wirklich jemand, dass Deutschland seinen CO2-Ausstoß bis 2050 um 80% reduzieren kann?

Den Entscheidungsträgern bleibt dann nur die Hoffnung, dass sie bis dahin entweder nicht mehr im Amt sind oder sich die Welt dann gerade mit anderen Problemen herumschlägt.

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